Die EU muss sich auf das Wesentliche konzentrieren

Freiheit, Frieden und Wohlstand prägen die Europäische Union. Aber die Brüsseler Bürokratie macht viele Errungenschaften zunichte. Die Unions-Politiker Friedrich Merz und Manfred Weber nennen fünf Aufgaben für eine zukunftsfähige EU. Die EU muss sich auf das Wesentliche konzentrieren.
Die EU muss sich auf das Wesentliche konzentrieren
Die EU muss sich auf das Wesentliche konzentrieren

Im November 2013 versammelten sich auf dem Maidan in Kiew Ukrainerinnen und Ukrainer, um gegen die Aussetzung des Assoziierungsabkommens zwischen der Europäischen Union und der Ukraine zu protestieren. 800.000 Menschen jeder Altersgruppe verband die Idee eines Europas, geprägt von Freiheit, Frieden und Wohlstand. Niemand wollte akzeptieren, dass eine russlandhörige Regierung ihnen die Perspektive auf ein selbstbestimmtes Leben nimmt. Die Werte der Europäischen Union wurden damals zum Hoffnungsträger eines ganzen Volkes. Heute verteidigen Ukrainerinnen und Ukrainer diese Werte erneut mit ihrem Leben.

Der russische Angriffskrieg verdeutlicht uns auf brutale Weise, dass das Friedens- und Freiheitsversprechen der Europäischen Union aktueller ist denn je. Die Menschen wollen den „European Way of Life“, mit unserem freiheitlichen wie sozialen Wirtschafts- und Sozialmodell, fairen Bildungschancen, marktwirtschaftlichem Klimaschutz und gesundheitlicher Sicherheit. Dieses Kernversprechen von Frieden, Freiheit und Wohlstand leistet die Europäische Union für nahezu eine halbe Milliarde Menschen.

Es wird uns heute bewusst, wie groß das Geschenk der Gründer der europäischen Einigung ist. Die historischen Errungenschaften drohten durch die Brüsseler Bürokratie mit immer neuen Verordnungen in den Hintergrund zu treten. Neben einem Moratorium – dem Stopp von neuen bürokratischen Regeln in Krisenzeiten – muss sich Europa jetzt auf seine zentralen Aufgaben konzentrieren. Wir wollen eine starke und effiziente Union sein, die nur die Aufgaben übernimmt, die die Mitgliedstaaten allein nicht lösen können. Europäische Regulierung muss sich auf das Wesentliche fokussieren.

Es geht um fünf Pfeiler

Erstens. Die Weiterentwicklung der europäischen Verteidigungsunion im Nato-Rahmen sowie die Vertiefung in Sicherheits- und Außenpolitik haben Priorität.

Gleichzeitig muss Europa als demokratischer Kontinent fest an der Seite unserer transatlantischen Partner USA und Kanada stehen. In einer zunehmend konfrontativen Welt der Systemkonkurrenz müssen wir neue Allianzen schaffen, um einseitige wirtschaftliche und strategische Abhängigkeiten zu reduzieren.

Dazu gehört eine enge pazifische Partnerschaft mit den Demokratien Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland, eine engere strategische Bindung an Indien und die ASEAN-Staaten, aber auch die Kooperation mit lateinamerikanischen und afrikanischen Ländern, die mit uns Grundlagen einer regelbasierten Ordnung teilen.

Zweitens. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit Europas ist unsere Lebensversicherung in einer globalisierten Welt. Sie entscheidet, ob wir Taktgeber sind oder anderen folgen müssen. Wirtschafts-, Energie- und Klimapolitik müssen wir daher als Einheit denken.

Dazu braucht es Anreize statt Belastungen, neue Technologien statt Verbote, und Vertrauen in die Kraft der Innovation statt Angst vor existenzieller Bedrohung. Am besten wird uns dies mit einem vitalen Binnenmarkt, einer zukunftsfähigen Innovationspolitik, einer fairen Regionalpolitik und mit einem globalen Freihandelsraum der Demokratien gelingen.

Drittens. Wir brauchen eine europäische Energieunion, die unseren Kontinent in eine klimaneutrale Zukunft führt und dabei die wirtschaftlichen und sozialen Bedürfnisse der Menschen im Blick behält. Energie darf nicht zum Luxusgut werden, sie ist Grundlage für Wachstum und Arbeitsplätze.

Wir dürfen uns nicht aus ideologischen Gründen der Forschung und Entwicklung neuer Technologien verweigern. Zugleich legt der Systemwettstreit mit Russland und China schonungslos offen, dass es ohne Ressourcensicherheit keine Energiesicherheit gibt. Die europäische Energieunion muss daher auch eine Ressourcenunion sein.

Viertens. Die Europäische Union muss zur Hüterin einer nachhaltigen Finanzstabilität und wirtschaftlicher Prosperität der Mitgliedstaaten werden. Unser langfristiger Wohlstand und unser Wachstum in Europa hängen vom seriösen Haushalten ab. Eine schuldenfinanzierte Zukunft steht auf wackligem Fundament.

Wir lehnen die Vergemeinschaftung von Schulden ab und setzen uns für verbindliche Stabilitätsregeln ein. Das schulden wir den kommenden Generationen. Wir möchten einen europäischen Währungsfonds schaffen, stehen für einen stabilen Euro und die Vollendung des EU-Binnenmarktes.

Fünftens. Wachstum und Innovation brauchen kluge und kreative Köpfe. Fachkräfte sind rar, in manchen Teilen Europas liegt die Jugendarbeitslosigkeit jedoch bei 30 Prozent. Die EU muss ein solidarischer Bildungsraum werden, der junge Europäerinnen und Europäer durch gute Ausbildung in den Arbeitsmarkt führt und die Lebensbedingungen in den Regionen angleicht.

Aber wir brauchen auch Expertinnen und Experten aus der ganzen Welt, um wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Menschen, die mit dauerhafter Bleibeperspektive zu uns kommen, müssen schnell in unsere Gesellschaft und unseren Arbeitsmarkt integriert und nicht in die Untätigkeit entlassen werden.

Ob aber jemand asylberechtigt ist oder nicht, gilt es bereits vor Einreise in die EU zu klären. Illegale Migration zu bekämpfen und legale Migration zu steuern, ist eine gesamteuropäische Aufgabe.

Von der Leyen hat EU beispiellos gestärkt

Die Europäische Union ist der Schlüssel zur Lösung der großen Herausforderungen unserer Zeit. Aber wir müssen die europäischen Institutionen weiterentwickeln und an die veränderten Realitäten anpassen.

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat gemeinsam mit der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament und den EVP-Regierungschefs durch umsichtiges und geschlossenes Handeln den Zusammenhalt unserer Union in der schwersten Krisenphase der letzten 75 Jahre beispiellos gestärkt.

Das heutige Europa wurde maßgeblich von deutschen und europäischen Christdemokratinnen und Christdemokraten geprägt. Darauf sind wir stolz. Wir stehen für ein selbstbewusstes Europa der Vernunft, das seine Interessen definiert, seiner globalen Verantwortung gerecht wird, aber auch seine Grenzen schützt.

Friedrich Merz ist Vorsitzender der CDU und der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
Manfred Weber ist Vorsitzender der Europäischen Volkspartei (EVP) und der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament.

 

Dieser Gastbeitrag erschien zuerst in der WELT online am 04. Mai 2023.

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