Die EU braucht eine neue Migrationspolitik

Eine Strategie des Aussitzens ist gescheitert. Die Migrationskrise ist und bleibt eine gemeinsame europäische Herausforderung. Beim Sondergipfel können die EU-Staats- und Regierungschefs zeigen, dass sie aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt und den Anfang für eine funktionierende Migrationspolitik für die kommenden Jahrzehnte machen können.
Die EU braucht eine neue Migrationspolitik
Die EU braucht eine neue Migrationspolitik

Wenn die EU-Staats- und Regierungschefs am Donnerstag zum außerordentlichen EU-Gipfel zusammenkommen, wird es um das Thema Migration gehen – endlich. Bisher haben zahlreiche Regierungen versucht, das Thema möglichst zu ignorieren, zuvorderst die Ampel-Bundesregierung. Zu tief sitzt offenbar noch die zum Teil aus dem Ruder gelaufene Situation in der Migrationskrise ab 2015 im Bewusstsein. Damals haben es die EU-Staaten viel zu lange versäumt, durch eine gemeinschaftliche Politik die krassesten Entwicklungen bei der illegalen Migration in den Griff zu bekommen. Scheinbar war das Ziel, durch eine Nicht-Thematisierung die Situation auszusitzen. Diese Strategie ist gescheitert. Die Aufnahmezentren sind voll, die EU-Staaten schlafwandeln in eine neue Migrationskrise.

Ich habe mir am Montag nochmal ein Bild von der Lage in Griechenland gemacht und mich mit Premierminister Kyriakos Mitsotakis und den zuständigen Ministern beraten. In Griechenland kommt ein Großteil der Migranten der östlichen Mittelmeerroute an. Aufgrund einer entschlossenen Politik konnte das Land die Kontrollen an der EU-Außengrenze erfolgreich verbessern und den vom türkischen Präsidenten Erdogan bewusst zugelassenen Flüchtlingsstrom eindämmen.

Doch sind nicht alle so konsequent wie die griechische Regierung. 2022 kamen über alle Fluchtrouten zusammen mindestens 330.000 irreguläre Migranten nach Europa – über 60 Prozent mehr als 2021 und mehr als je zuvor seit der Migrationskrise ab 2015. Dabei sind die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine nicht mitgerechnet. Zahlreiche Landkreise in Deutschland sind an der Kapazitätsgrenze und haben Hilferufe nach Berlin gesendet, die zunächst von der Ampel überhört worden sind. Diese Zahlen und Entwicklungen zeigen multiple systemische Probleme auf. Bisher hat die EU keine taugliche Migrationspolitik zustande gebracht. Der Sondergipfel Migration muss jetzt die richtigen Prioritäten setzen.

Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit, Freiheit, Friede und Solidarität. Besonders darauf ist unser heutiges Europa gegründet. Das bedeutet, das Asylrecht als europäische Errungenschaft hochzuhalten, gegen Missbrauch zu verteidigen und für jene durchzusetzen, für die es gedacht und gemacht ist. Anders als rechtsradikale Parteien wollen, dürfen wir auf keinen Fall die Hand an das Asylrecht legen. Die Hilfs- und Aufnahmebereitschaft für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine v.a. in Mittel- und Osteuropa ist großartig. Unzählige Helfer unterstützen die EU-Staaten, damit fast acht Millionen geflüchtete Kinder und Erwachsene aus der Ukraine eine vernünftige Unterkunft, Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten oder Arbeit haben. Auf diese Hilfsbereitschaft können Europäer stolz sein. Für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine wie davor aus Syrien war und ist Europa weiter ein Ort der Zuflucht.

Allerdings: Mehr als die Hälfte der Menschen, die in Europa ankommen, hat keinen Asylgrund, bekommt keinen Flüchtlingsstatus zuerkannt. Die EU-Kommission hatte bereits 2020 einen guten Vorschlag präsentiert, um die europäische Migrationspolitik auf neue Füße zu stellen. Passiert ist seither wenig. Zahlreiche Regierungen haben sich auf die Strategie des Aussitzens verlegt. Die EU muss aber endlich zu einer angemessenen Migrationspolitik kommen, sonst geht sie das Risiko ein, dass die Bürgerinnen und Bürger der Politik irgendwann das Vertrauen bei der Migrationspolitik entziehen und die radikalen Parteien davon profitieren werden.

Was ist zu tun? Wir benötigen zuvorderst einen besseren Schutz der EU-Außengrenzen mit einer voll einsatzfähigen Grenz- und Küstenwache, oder – noch besser – mit einem richtigen EU-Grenzschutz. Es wäre ein starkes Signal, wenn die Bundesregierung deutlich mehr Beamte entsendet, um die griechischen, italienischen oder spanischen Kollegen an den EU-Außengrenzen noch stärker zu unterstützen.

Der demokratisch legitimierte Rechtsstaat muss entscheiden, wer nach Europa kommen kann und nicht die organisierte Kriminalität, nicht der hybride Krieg. Diese verbrecherischen Kräfte bedienen sich Schlepperbanden, die Menschen großes Leid zufügen, sie um ihre Ersparnisse bringen und Europa unter Druck setzen sollen. Damit machen sie Milliardengewinne. Um den freien Personenverkehr innerhalb der EU zu erhalten, ist ein funktionierender Schutz der EU-Außengrenzen unabdingbar. Wenn es nicht anders geht, gehört auch der physische Grenzschutz dazu. Wir brauchen eine wirksame Infrastruktur, die es erlaubt, Migrationsströme zu bewältigen, zu steuern und zu kontrollieren – notfalls auch Zäune.

Außerdem sind schnellere Asylverfahren und Solidarität bei der Erreichung von Abkommen für Rückführungen sowie deren Durchführung nötig. 340.000 Migranten waren nach einem rechtsstaatlichen Verfahren ausreisepflichtig, aber nur 70.000 haben die EU verlassen. Seit 2014 ist nur ein einziges neues Rückführungsabkommen geschlossen worden. Damit bleibt die EU-Kommission hinter ihren Zielen zurück. Genauso ist die lückenlose und vollständige Registrierung von Ankommenden entscheidend für das Funktionieren der Systeme. Um Asylbewerber besser zu schützen, wäre richtig, in nord- und zentralafrikanischen Ländern EU-Asylbüros einzurichten, wo Flüchtende gefahrlos Asyl beantragen können und eine seriöse Einschätzung von EU-Beamten bekommen, ob sie eine Chance auf einen Aufenthalt in der EU haben. Damit könnten die gefährlichen Überquerungen des Mittelmeers zum Teil unnötig werden.

Es muss ein neuer Ansatz für die Seenotrettung im Mittelmeer gefunden werden. Wir brauchen mehr Anstrengungen, um Leben zu retten. Leider ist die staatliche EU-Mission zur Rettung von Migranten aufgelöst worden. Anstatt dass sich die EU-Staaten wieder zusammentun, um v.a. auch den südeuropäischen Staaten zu helfen, ist Seenotrettung auf engagierte private Schultern gepackt worden – mit allen Problemen, die damit einhergehen können. Aber anstatt gerade Italien bei Kontrolle, Aufnahme oder Rückweisung von Migranten zu unterstützen oder eine neue EU-Mission zu initiieren, fördert die Ampel lieber private Seenotretter – dies ist ein fatales Signal an unsere europäischen Partner. Es sind staatlich definierte Regeln für alle Seenotretter im Mittelmeer notwendig, die von allen Anrainerstaaten gemeinsam angewandt werden. Das Schwarze-Peter-Spiel muss ein Ende haben.

Wenn der Außengrenzschutz funktioniert, ist Solidarität im Innern nötig. Es dürfen nicht die EU-Staaten mit einer EU-Außengrenze oder die wenigen Länder, die die meisten Migranten aufnehmen, mit der riesigen Aufgabe allein gelassen werden. Ein fester Solidarmechanismus ist zwar gescheitert – leider. Aber ein abgestufter Solidarmechanismus wäre richtig und machbar. In besonderen Krisensituationen müssen die EU-Staaten zusammenstehen und keiner darf sich um seine Verantwortung herumdrücken.

Zuletzt mag die Strategie des Aussitzens auch damit zusammenhängen, dass zuvorderst linke Regierungen ein Erstarken der radikalen Rechten befürchten. Jedoch: 2015 wurden die Herausforderungen nicht offen angesprochen, Sorgen nicht aufgegriffen und es wurde eben nicht konsequent gehandelt. Stattdessen befeuerte eine überzogene Rhetorik eine Aufregungskultur und Stimmung, die letztlich den Radikalen in die Hände spielte. Dies darf nicht noch einmal passieren. Deshalb müssen wir die Dinge, gerade die Fehler in der Migrationspolitik, beim Namen benennen, konsequent handeln, aber im Ton und Umgang nicht den Radikalen wie der AfD auf den Leim gehen.

Wir Europäer wissen und haben die Pflicht, dass wir daran arbeiten müssen, die Fluchtursachen zu bekämpfen. Kein anderer Teil der Welt widmet sich so sorgsam den Fragestellungen, die mit Migrationsbewegungen verbunden sind, wie die EU das tut. Wir müssen das in einer Weise tun, die uns durch falsche Pull-Faktoren nicht noch mehr zum Anlaufpunkt und zum Ziel hybrider Angriffe macht.

Ähnlich attraktiv wie Europa sind etwa Australien, Kanada und die USA. Diese Länder schaffen nicht nur eine angemessene Politik in Sachen irregulärer Migration. Es gelingt ihnen ebenso, dringend benötigte Fachkräfte anzuwerben und eine Integrationspolitik zu betreiben, die die zu Integrierenden weit besser anspricht. Dieser Form legaler Migration muss sich die EU ebenfalls mit mehr Engagement widmen. Legale Zuwanderung, gelungene Integration und Anpacken von Missständen sind zentrale Zukunftsaufgaben für Europa. Sie entscheiden über die Zukunftsfähigkeit des Kontinents mit.

Die Migrationskrise ist und bleibt eine gemeinsame europäische Herausforderung. Beim Sondergipfel können die EU-Staats- und Regierungschefs zeigen, dass sie aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt und den Anfang für eine funktionierende Migrationspolitik für die kommenden Jahrzehnte machen können. Trotz der zaudernden und falschen Politik der Ampel-Parteien darf dies nicht nur ein Wunsch bleiben.

 

Manfred Weber (50) ist EVP-Partei- und Fraktionsvorsitzender sowie Stellvertretender CSU-Parteivorsitzender.

 

Zuerst erschienen am 8. Februar 2023 auf WELT.de. Mehr zum Thema Migration finden Sie hier zum Ansehen und Nachlesen.

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