Die EU braucht eine realistische Russland-Strategie

Die Beziehungen zwischen der EU und Russland sind derzeit in einem Zustand, wie sie schlechter kaum sein könnten. Der diplomatische Eklat beim Besuch des EU-Außenbeauftragten in Moskau (zeitlich parallel zum Pressegespräch mit dem russischen Außenminister hat Russland mehrere Diplomaten aus der EU ausgewiesen) ist ja leider nur ein weiterer Tiefpunkt. Das zerrüttete Verhältnis ist Folge einer Vielzahl russischer Aktivitäten oder zumindest durch die russische Führung gedeckter Aktionen, die die EU und den Westen unmittelbar bedrohen. Derweil ist gerade der EU an einem guten Auskommen mit unserem direkten Nachbarn gelegen. Enge Verbindungen, wirtschaftlich, kulturell oder gesellschaftlich, sind eigentlich wünschenswert. Die Realität sieht allerdings anders aus. Guten Willens muss die EU zwar sein, aber definitiv nicht naiv oder dumm. Es braucht mehr Ehrlichkeit, Klarheit und Konsequenz im Verhältnis zueinander und deshalb eine realistische EU-Russland-Strategie.

Der EU und den westlichen Staaten ist bisher relativ gut gelungen, eine gemeinsame Haltung gegenüber der russischen Führung einzunehmen. Es ist aber notwendig, einen längerfristigen strategischen Ansatz zu finden, der die Strategie von Präsident Wladimir Putin beantwortet. Putin gefällt sich in der Rolle des starken Führers, wie zuletzt diese Woche bei seiner Rede an die Nation wieder einmal deutlich wurde. Provokationen, Verdrehungen, militärische Drohungen, laute Töne sind sein typisches Repertoire, auch um im Inneren seine Macht zu stabilisieren. Entsprechend klar müssen Europas Botschaften an ihn sein. Nur aus einer Position der Stärke heraus werden wir in Moskau überhaupt erst ernst genommen. Die EU muss endlich anfangen, den kompletten Instrumentenkasten ihrer Handlungsmöglichkeiten, also beispielsweise auch wirtschaftliche, für außenpolitische Zwecke zu nutzen. Das geschieht bisher nur ansatzweise. Und wir müssen dem transatlantischen Aufbruch mit der Biden-Administration konkrete Schritte folgen lassen. Es sollte ein gemeinsamer Katalog auf den Tisch liegen für den Fall weiterer Provokationen. Man muss Putin den Preis klar benennen.

Die Entwicklungen rund um die Ostukraine, Mordanschläge, Cyberattacken und Desinformationskampagnen, die Unterstützung des weißrussischen Regimes bei der Unterdrückung der demokratischen Opposition oder die Finanzierung oder Unterstützung Rechtsradikaler in der EU sind eine reale Bedrohung für die EU und den Westen. Die jüngst aufgedeckten russischen Geheimdienst-Operationen in Tschechien unterstreichen dies einmal mehr. Diese direkte Konfrontation gegenüber dem europäischen Wertemodell ist nicht ignorierbar. Genauso ist der Umgang mit russischen Oppositionellen wie Alexej Nawalny inakzeptabel. Nawalnys derzeitiger Gesundheitszustand lässt Schlimmstes befürchten. Er ist einer der Vertreter, die für mehr Freiheit und Demokratie in Russland kämpfen. Dies ist aber auch nur der prominenteste Fall des Drucks auf die Opposition, es gibt viele weitere Beispiele. Der Platz Europas muss immer an der Seite derer sein, die für Freiheit und Demokratie eintreten – egal wo auf der Welt.

Ich will zwei Beispiele nennen, wie die EU realistischer handeln kann. Es scheint so als ob Putin geradezu darauf aus ist, die Konflikte rund um die Ukraine wieder zurück in die Schlagzeilen zu bringen. Auch wenn nun der Rückzug der Truppen aus dem Umfeld der Ukraine angekündigt ist, die Absicht hinter den Manövern war offensichtlich. Putin versucht außenpolitisch einzuschüchtern. Der gewaltige Truppenaufmarsch mit Zehntausenden Soldaten, schwerem Kriegsgerät und starker Flottenpräsenz ist ein gefährliches Manöver. Die Integrität und Souveränität der Ukraine müssen garantiert sein. Auch wenn das Land noch ein gutes Wegstück hin zu einem Staatswesen mit Standards nach westlichen Vorstellungen hat, die richtige Richtung ist eingeschlagen. Die Ukrainer haben mehrfach in demokratischen Wahlen bestätigt, diesen Weg fortzusetzen. Nicht Russlands Führung entscheidet über den Weg der Ukraine, sondern die Ukrainer selbst. Dabei hat die Ukraine unsere volle Unterstützung. Wenngleich sich die russischen Truppen jetzt zurückziehen, für die Zukunft muss uns diese Art der Provokation eine Lehre sein. Es braucht kristallklare Aussagen, was auf dem Spiel steht, nur diplomatische Floskeln sind zu wenig. Wenn durch weitere Eskalationen eine neue Qualität in dem Konflikt erreicht würde, müsste entschieden geantwortet werden. Das Einfrieren weiterer Oligarchenkonten oder sogar eine Kappung Russlands vom Swift-System müssten im Extremfall möglich sein.

Oder Nord Stream 2: Die Pipeline ist grundsätzlich nicht im gesamteuropäischen Interesse, weil sie die Energieabhängigkeit der EU von Russland vergrößert und die EU-Länder spaltet. Die EU- und andere westliche Partner sehen Deutschlands Rolle mehr als skeptisch. Genauso ist Nord Stream 2 für den Neustart der Beziehungen mit den USA eine Hypothek. Die Pipeline ist aus heutiger Sicht wirtschaftlich nicht notwendig und sie übergeht bisherige Transitländer. Sie ist vorwiegend ein politisches Projekt, vor allem für die russische Führung. Es muss unzweideutig kommuniziert werden: Sollte beispielsweise die Lage in der Ostukraine eskalieren, sollte die territoriale Integrität eines europäischen Staates durch Waffengewalt erschüttert werden, oder sollte Alexej Nawalnys Gesundheit weiter zu Schaden kommen, wäre Nord Stream 2 nicht mehr zu halten.

Es geht im EU-Russland-Verhältnis um mehr Realismus, um Ehrlichkeit, Klarheit und Konsequenz. Wünschenswert wären eine Annäherung und eine Verbesserung der Beziehungen, am besten sogar eine engere Kooperation. Die EU wäre umgehend bereit für solch einen Ansatz. Es liegt nun an der russischen Führung. Wahrscheinlicher ist derzeit, dass mehr Klartext gesprochen werden muss und Konsequenzen aufgezeigt werden müssen. Es wird sich in den kommenden Monaten beweisen, ob der Westen seine Kraft zur Geschlossenheit und Entschlossenheit zum Verteidigen unserer Werte behält. Wir sollten an unsere Werte glauben und für sie mutiger und aktiver eintreten.

 

Dieser Gastbeitrag ist zunächst am 23.04.2021 in der WELT erschienen.

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