Anfang Februar habe ich zum dritten Mal seit Kriegsbeginn Kyjiw besucht, um – unter anderem – Präsident Wolodymyr Selenskyi zu treffen. Für mich war es ein einschneidendes persönliches Erlebnis. Beim Ausstieg aus dem Nachtzug bin ich vom Luftalarm willkommen geheißen worden. Kaum war ich im Luftschutzkeller im Hotel in Sicherheit, sind in Hör-Nähe Raketen eingeschlagen. Zeitgleich haben manche Politiker in Deutschland und Europa darüber schwadroniert, dass in großen Teilen der Ukraine gar kein Krieg herrsche. Welche Ignoranz, ideologische Verblendetheit und Unterwerfung unter Putins Propaganda! Der Krieg ist echt, brutal, grausam. Er findet mitten in Europa statt. Es ist dramatisch, dies nicht nur im Fernsehen zu sehen, sondern hautnah zu erleben. Und dieser Krieg wird von Putin-Russland nicht nur gegen die Ukraine geführt, sondern auch gegen das freie demokratische Europa. Wir sind sicherheitspolitisch leider in einer anderen Welt als vor wenigen Jahren.
Europas Spitzenpolitiker verwenden den Begriff der Zeitenwende zu Recht, um den Bruch in der europäischen Sicherheitsordnung durch Putins Überfall auf die Ukraine zu beschreiben. Die Debatten haben sich massiv verschoben. Notwendigerweise ist die sicherheitspolitische Diskussion in Deutschland und Europa wieder mehr in den Vordergrund gerückt. Die Außenpolitik wird wieder mit mehr Realismus und mit sicherheitspolitischen Maßstäben betrieben. Vieles ist richtig analysiert und erkannt. Der öffentliche Diskurs hat sich verändert. Eine Menge wurde angekündigt, manches auch umgesetzt. Leider aber reicht das nicht aus.
De facto verteidigt die Ukraine auch ein Stück Europas Freiheit. Das kann man in dieser Deutlichkeit so mögen oder nicht. Jedoch ist klar, dass sich die strategische Situation im Falle einer Niederlage der Ukraine oder Okkupation durch Russland dramatisch verändern würde. Wer Putin reden hört, wer die Propaganda in Russland zur Kenntnis nimmt, wer realisiert, dass Putin Krieg braucht, um seine eigene Herrschaft zu rechtfertigen und zu sichern, der weiß auch, dass wir Europäer oder zumindest einzelne Staaten die nächsten Ziele sein werden. Zugleich dürfen die tektonischen Verschiebungen im internationalen Sicherheitsgefüge durch Russland, China, den Iran oder Nordkorea nicht ignoriert werden. Wir müssen uns deshalb fragen, ob wir wirklich alles tun, um die Ukraine bestmöglich gegen die Invasoren zu unterstützen, Stichwort Taurus, und ob wir wirklich die notwendigen Schlussfolgerungen für die eigene Verteidigungsfähigkeit gezogen haben? Die Ampel-Regierung hinterlässt dabei den Eindruck der Ängstlichkeit und Zögerlichkeit statt eines entschlossenen Entscheidens. Wer heute noch nicht verstanden hat, dass die Verteidigung unseres Landes und des Bündnisgebiets nicht nur im Reden, sondern auch im Handeln höchste Priorität haben muss, der hat in der Regierung nichts mehr verloren.
Ich habe bereits kurz nach dem Beginn der russischen Invasion erläutert, dass die EU-Staats- und Regierungschefs beispielsweise ernst machen müssen mit dem Aufbau einer Europäischen Verteidigungsunion, damit Europa wehrhaft ist. Die Stärkung der NATO, des Zusammenhalts des Nordatlantikpakts ist fundamental. Die grundlegende Modernisierung, Aufwertung und auch Rüstung der Bundeswehr mit einem Verteidigungshaushalt von dauerhaft deutlich über zwei Prozent des BIP ist ebenso zentral. Mir fehlt aber weitgehend die europäische Dimension, um die Friedensordnung in Europa zu bewahren. Zwei Punkte sind wichtig: Wo kann ein europäischer Pfeiler einen echten Mehrwert zur nationalen Verteidigung und NATO bieten und wie organisieren wir die nukleare Abschreckung langfristig?
„Die EU muss aus ihrem sicherheitspolitischen Dornröschenschlaf aufwachen“
Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU leidet, trotz einiger Fortschritte, unter einem tristen Dasein. Es ist aber die Überlebensfrage dieses Jahrzehnts. Putins brutaler Angriffskrieg zeigt einmal mehr, dass die EU aus ihrem sicherheitspolitischen Dornröschenschlaf aufwachen muss. Richtig ist: Die inzwischen 13 europäischen Sanktionspakete gegen Russland sind ein großer Schritt, den kaum jemand für möglich gehalten hat. Diese harten Wirtschaftssanktionen, die Waffenlieferungen an die Ukraine und die wirtschaftlich-finanzielle Unterstützung sind durchaus ein Statement, damit die EU als außenpolitische und wirtschaftliche Macht ernster genommen wird. Nun muss aber die Sicherheitspolitik folgen.
2022 haben die EU-Staaten alle zusammen gerade einmal etwas über 200 Milliarden US-Dollar in die Verteidigung investiert (die USA zum Vergleich mehr als das Vierfache davon). Es ist offenkundig, dass hier ein Ungleichgewicht besteht. Gerade über die EU-Verteidigungsinitiative PESCO gibt es viele Ansätze, manche durchaus ambitioniert: funktionierende EU-Kommandostrukturen für gemeinsame Missionen und ein militärisches Hauptquartier, ein gemeinsames Beschaffungswesen oder die Standardisierung bei der Ausrüstung. Die aktuelle Situation macht aber klar: Es braucht keine Trippelschritte, sondern einen Durchbruch. Die nationalen Streitkräfte sollten in einer starken EU sehr viel enger zusammenarbeiten. Dabei verfolgen wir das Ziel europäischer Streitkräfte im Sinne einer gestärkten europäischen Verteidigungsunion, eingebettet in die Strukturen der NATO, um gemeinsam verteidigungsfähig zu sein.
Bei internationalen Missionen wird viel Zeit und Kraft mit den verschiedenen Funkstandards, Munition und Technik verschwendet. Jede Armee Europas hat Sonderwünsche, dieser (über lange Zeit ja durchaus verständliche) nationale Egoismus schwächt die Einsatzbereitschaft, erhöht die Kosten und ist in der heutigen Zeit nicht mehr zukunftsfähig. Die Streitkräfte in der EU setzen bis zu 17 verschiedene Panzer-Modelle ein, die USA gerade einmal einen. Die Europäer nutzen 180 (!) verschiedene Waffensysteme, die USA insgesamt 30. Alleine diese Zahlen machen mehr als deutlich, wo wir ansetzen müssen.
Es braucht einen EU-Binnenmarkt für Verteidigung und den Ausbau der Rüstungsproduktionsfähigkeiten. Die Munitionsproduktion ist heute eine der Schlüsselfragen angesichts der Unfähigkeit der europäischen Staaten, ausreichend Munition für die Ukraine zu liefern. Die europäische Rüstungsindustrie muss harmonisiert werden, um effektiver zu werden und mit gemeinsamen Rüstungsexportregeln auch militärisch-technologisch stärker zu sein. Diese Schritte sollten durch einen neu zu schaffenden EU-Verteidigungskommissar im Rahmen der bestehenden EU-Kompetenzen koordiniert werden. Ein EU-Verteidigungshaushalt von mindestens 0,5 Prozent des EU-BIP (zusätzlich zu den nationalen Verteidigungshaushalten) könnte einen großen Anschub geben.
„Hybride Angriffe Russlands auf die EU und die NATO sind längst Alltag“
Hybride Angriffe Russlands auf die EU und die NATO sind längst Alltag: die tagtägliche Propaganda, Auftragsmorde, Spionage, Cyberangriffe und vieles mehr. Die Verteidigung der europäischen Digitalstruktur beispielsweise gehorcht nicht der Logik von Landesgrenzen. Angesichts begrenzter Ressourcen ist ein gemeinsames Handeln folgerichtig. Wir brauchen etwa eine Cyberabwehr-Brigade der EU. Es liegt auf der Hand, Experten unter einem Dach und Kommando zusammenzubringen, Strategien zu entwerfen, Knowhow zu entwickeln und kritische Infrastruktur zu schützen. Die EU muss genauso zum Gegenschlag fähig sein. Jeder Angreifer im Netz muss wissen, dass man sich mit der EU besser nicht anlegt. Das ist derzeit so bei weitem noch nicht der Fall.
Es wird angesichts der veränderten Sicherheitslage in den kommenden Jahren wieder auf ganz große Verteidigungsfragen ankommen. USA und NATO organisieren die Raketenabwehr in Europa, auch gegen nukleare Angriffe. Wir müssen zu einem eigenen europäischen Raketen-Abwehrschirm kommen, zusammen mit der NATO gedacht und in deren Strukturen integriert. Die USA würden so einerseits entlastet und die Europäer stärker selbst für ihre Verteidigung verantwortlich. Dies würde ebenso Kritik aus den USA vorbeugen, dass sich die Europäer zu wenig selbst um ihre Verteidigung kümmern. Kürzlich hat der Bundesverteidigungsminister – leider mit überwiegend nationaler Brille – genau dies nochmal akzentuiert. Ich frage mich allerdings, warum es in der Bundesregierung zwei Jahre gedauert hat, um zu dieser naheliegenden Erkenntnis zu kommen, die ja mit dem Hamas-Terrorkrieg gegen Israel im vergangenen Jahr einmal mehr klar vor Augen geführt wurde.
Die Gretchenfrage bleibt natürlich die nukleare Verteidigung. Die USA garantieren mit ihren Nuklearwaffen über die NATO den Schutzschirm für die europäischen Partner. Ohne Nuklearschirm keine Freiheit. Das ist der elementarste Schutz, der uns heute die Gewissheit gibt, dass Putin nicht die unmittelbare Konfrontation mit der NATO sucht. Diese Sicherheit darf in einer Phase wie der jetzigen nicht von uns Europäern in Frage gestellt werden. Großbritannien und Frankreich verfügen ebenso über Nuklearstreitmächte, die zwar Teil der nuklearen Abschreckung Europas sind, allerdings nicht in die NATO integriert.
Französische Präsidenten haben mehrmals angedeutet, dass die französischen Nuklearwaffen auch zum Schutz anderer europäische Staaten dienen können. Zudem hat Präsident Macron 2020 angeboten, einen strategischen Dialog über die Rolle der nuklearen Abschreckung Frankreichs für die gemeinsame Sicherheit zu führen. Dieses Angebot müssen Deutschland und EU endlich annehmen. Bei allem Verständnis, dass die Bundesregierung keine Verärgerung in den USA auslösen möchte, aber überhaupt keinen Dialog zu führen, ist dann schon fahrlässig. Wir sind zwar noch weit davon entfernt, dass Frankreich damit einen wirklichen nuklearen Schutzschild für die EU bietet (ganz klar, wir sprechen dabei nicht von EU-Atomwaffen), aber zumindest Möglichkeiten sollten ausgelotet werden – selbstverständlich in enger Kooperation mit den USA und der NATO. Wir Deutschen sollten mit Frankreich intensiv über die Aufgabenverteilung bei der europäischen Selbstverteidigung reden. Leider fehlt es aber sowohl in Berlin wie auch in Paris an der jetzt so notwendigen Führung.
„Die Grundlage wirklicher europäischer Souveränität ist die Fähigkeit, dass sich Europa selbst verteidigen kann“
Die Gründerväter der EU wie Adenauer und de Gaulle verfolgten das Ziel einer europäischen Armee. Ihre Idee war: Nie wieder Krieg in Europa! Jetzt zwingt uns Putin der Realität ins Auge zu schauen. Die Grundlage wirklicher europäischer Souveränität ist die Fähigkeit, dass sich Europa selbst verteidigen kann – mit starken nationalen Streitkräften und einer sehr viel engeren europäischen Kooperation. Das ist ein riesiger Kraftakt. Wann aber, wenn nicht jetzt, müssen wir Europäer das anpacken. Der russische Angriffskrieg, die Verschiebung der globalen Machtverteilung und die stärkere Orientierung der USA in den Pazifikraum wird von den Europäern mehr und mehr Eigenverantwortung abverlangen. Europa muss erwachsen werden.