Europa ist als Brückenbauer nötiger denn je

Über 350 Kriege und Konflikte weltweit zählt das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung. Zwar nimmt derzeit glücklicherweise die Zahl der Kriege ab. Jeder bewaffnete Konflikt ist jedoch einer zu viel. Wir in Europa sind vergleichsweise auf einer Insel der Seligen. Der einzige aktuelle Krieg findet in der Ostukraine statt – und ist viel zu sehr aus der Wahrnehmung verschwunden. Ein Aufflammen des Nordirlandkonflikts nach dem Brexit scheint zumindest für den Moment gebannt. Europa ist heute ein Friedenskontinent. Das war natürlich nicht immer so. Insbesondere in den Weltkriegen war Europa Schauplatz der brutalsten Vernichtungskriege in der Geschichte der Menschheit. Wir brauchen aber gar nicht so weit zurückblicken. Die Balkankriege in den 90ern haben Tod und Elend über die Region gebracht. Noch heute sind viele Nachwirkungen spürbar. Von einer Aussöhnung sind manche der damaligen Konfliktparteien weit entfernt. Die EU-Erweiterung auf dem Balkan wird dadurch maßgeblich gebremst, zum Schaden aller.

Europa, wir Europäer haben aus den Katastrophen des ersten Teils des 20. Jahrhunderts gelernt. Die ernsthaften Initiativen für ein vereintes Europa Ende der 40er-Jahre sind unmittelbare Folge der Weltkriege. Eine gemeinsame europäische Armee, die 1954 an der französischen Nationalversammlung scheiterte, und die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl als Vorläufer der Europäischen Union haben sich direkt auf kriegsnotwendige Bereiche bezogen, mit dem schlichten, aber radikalen Ziel: Nie mehr Krieg!

Dieser Weg der europäischen Integration hat gefruchtet. Trotzt mancher Krise ist das wichtigste und fundamentalste Ziel erreicht worden, Krieg zwischen den Staaten der Gemeinschaft zu verhindern. Gestartet mit sechs Mitgliedern, hat es die EU auf 27 Mitglieder gebracht. Dass es gelungen ist, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs neun mittel- und osteuropäische Staaten, die früher dem Warschauer Pakt angehört hatten, zu integrieren, ist ein grandioser Erfolg. Das Versprechen, nie mehr Krieg in Europa, ist zumindest zwischen den EU-Mitgliedstaaten eingelöst. Das ist in der Weltgeschichte einzigartig.

Doch heute wirkt die EU auch als globaler Friedensfaktor, als Friedensmacht, oder soft power, unter den großen globalen Akteuren. Die Verfasstheit der EU ist dabei einmalig. Und genauso einmalig ist ihre Rolle. Die EU ist der Brückenbauer schlechthin, zwischen ihren Mitgliedstaaten, gegenüber ihren Nachbarn, zwischen den globalen Akteuren und auch gegenüber allen anderen Mitgliedern der Weltgemeinschaft. Das ist eine der historischen Aufgaben für die EU heute.

Brücken zu bauen bedeutet aber keineswegs, wehrlos zu sein oder seine Position ohne den nötigen Nachdruck zu vertreten. Hier wird die EU ihre außenpolitische Doktrin ein Stück fortentwickeln müssen. Die Bürgerkriege in Syrien oder Libyen oder der Krieg in der Ostukraine zeigen deutlich, dass die EU heute noch kaum eine Rolle zu spielen vermag, um Frieden in unserer Nachbarschaft zu schaffen oder zu sichern. Um wirklich gehört zu werden, muss die EU ihre Ressourcen und Fähigkeiten bündeln und abgestimmt für außenpolitische Zwecke einsetzen.

Beispiel Corona-Politik: Es ist ein immens wichtiges Signal, dass die EU angekündigt hat, einen Teil ihrer überschüssigen Impfdosen (die EU hat langfristig weit mehr Dosen bestellt, als sie selbst nutzen kann) für Länder in Nordafrika, auf dem Balkan oder Dritte-Welt-Länder einzusetzen. Die EU wird hier Solidarität mit den Ärmeren oder Ärmsten zeigen. Dieses Brückenbauen wird sich mittel- bis langfristig politisch auszahlen. Oder Beispiel Einsatz der Wirtschaftskraft als politischer Faktor: Wir nutzen unsere Kraft als einer der wirtschaftsstärksten Akteure derzeit zu wenig, um Einfluss auf andere politische Felder zu nehmen, sei es Außenpolitik, Klimaschutzpolitik oder den Schutz der Menschenrechte. Häufig geht die EU zu wenig abgestimmt vor, geschweige denn dass sich EU und Mitgliedstaaten ausreichend koordinieren. Ihre Rolle als Brückenbauer könnte die Gemeinschaft bei einem abgestimmten Politikansatz weit mehr nachkommen. Hier gibt es noch viel Entwicklungspotential.

Und Beispiel Sicherheitspolitik: Wer Frieden erhalten will, der muss sich auch verteidigen können. Die Verteidigungskomponente der EU steckt heute noch in den Kinderschuhen. Die Nato übernimmt de facto die Verteidigung Europas. Das ist gut, weil das Verteidigungsbündnis funktioniert, aber nicht immer ausreichend, Stichwort die Unsicherheiten während Donald Trumps US-Präsidentschaft. Europa muss sich im Zweifel auch selbst schützen können. Deshalb muss der europäische Pfeiler in der Nato gestärkt und ein eigener verteidigungspolitischer Pfeiler der EU mit realen Truppen, zumindest in einigen spezifizierten Bereichen, aufgebaut werden. EU-Verteidigungskapazitäten wären zudem weit billiger, schlagkräftiger und effizienter als viele derzeitige Strukturen, die von allen Mitgliedstaaten vorgehalten werden müssen. Die Souveränität Europas und eine enge Partnerschaft mit den USA bedeuten gleichzeitig, dass Europa mehr Verantwortung übernehmen muss.

Grundlage für unser internationales Handeln sind dabei unsere Werte. Der European Way of Life, unser europäischer Lebensstil, fasst diese Grundsätze zusammen. Nirgendwo sonst auf der Welt werden Freiheit, Gleichheit von Frau und Mann, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Religions- und Meinungsfreiheit, Umweltschutz oder soziale Marktwirtschaft so gelebt, sind so in den Verfassungen verankert, wie in den EU-Staaten. Diesen Wertekanon zu verteidigen, ist die eigentliche Aufgabe der EU heute. Wir sind global im Wettbewerb der Systeme. Im Umgang mit schwierigen Partnern wie Russland oder China, die ihre Macht ohne Rücksicht ausüben, ist das Wissen um diese Werte überlebensnotwendig. Brückenbauen heißt nicht, der Dumme zu sein oder sich immer auf ein Appeasement einzulassen. Brückenbauen auf Basis des European Way of Life bedeutet letztlich auch Stärke, das Wissen um das, worauf es eigentlich ankommt.

Heute wird unser europäischer Weg auch von ganz anderer Seite herausgefordert. Der Umgang von Gesellschaften untereinander wird rauer, der wachsende Egoismus und Nationalismus sowie wirtschaftliche Interessen unterminieren ihn. Die Tendenz zum Hassschüren, Abwerten anderer Meinungen, Falschnachrichten oder die Ablehnung von Kompromissen hatte durch Donald Trump einen Höhepunkt erreicht. Der Brexit ist ein weiteres Beispiel. Auch wenn durch die Abwahl Trumps die Radikalisierung des Populismus einen Dämpfer erhalten hat und viele Radikale ihr Idol verloren haben, so hat sich die Überhöhung des Egoismus doch fest in Europa etabliert, etwa in rechts- oder linksradikalen Bewegungen. Der Kompromiss, das Brückenbauen zwischen den verschiedenen Strömungen, ist aber die Essenz einer Demokratie. Den Kompromiss zu verteidigen und die Egoismen zu bekämpfen schützt unsere freiheitlich-demokratische Ordnung.

Viel hat damit zu tun, dass sich unsere Art der Kommunikation radikal gewandelt hat. Social Media tut sein übriges, um Hassbotschaften und Falschnachrichten zu verbreiten. Die ausgewogene Botschaft ist in den sozialen Medien wenig gefragt. Je provokanter, desto besser ist es für die Reichweite. Das zerstört den Willen zum Frieden in einer Gesellschaft. Am Beispiel der US-Wahlen und der Übergabe der Präsidentschaft ist mehr als deutlich geworden, welche Kommunikationsmacht die Internetgiganten hinter den sozialen Medien haben. In Demokratien kann es aber nicht sein, dass Unternehmen nach eigenem Gusto Meinungen mittels Algorithmen bewerten oder sogar einschränken. Es muss Sache des Gesetzgebers sein, einen Rahmen vorzugeben, was geht und was nicht. Es ist deshalb höchste Zeit, dass die Politik eine Regulierung der Internetkonzerne ernsthaft angeht.

Politik muss in der Lage dazu sein, gesellschaftliche Spannungen auszugleichen und zu vermitteln. Was bei der Industrialisierung im 19. Jahrhundert gescheitert ist, darf uns bei den zentralen Umbrüchen und Herausforderungen der Gegenwart nicht mehr passieren. Bei der Digitalisierung, beim Klimawandel, bei der demographischen Entwicklung ist es Aufgabe gerade von uns Christdemokraten und -sozialen den Ausgleich zu suchen. Möchte Politik überhaupt noch dazu fähig sein, die Richtung zu definieren, Krisen zu managen und Frieden zu wahren, muss sie Verantwortung, Mut und Entschlossenheit zeigen. Das ist ureigenste Aufgabe der Politik. Und diese Rolle kann Europa am besten als Brückenbauer übernehmen. Das ist unsere große Aufgabe für die kommenden Jahrzehnte.

 

Manfred Weber (48) ist niederbayerischer Europaabgeordneter und Vorsitzender der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament. Er ist zudem Stellvertretender Parteivorsitzender der CSU.

 

Dieser Gastbeitrag ist zunächst am 13. Februar 2021 im Straubinger Tagblatt sowie in der Münchner Abendzeitung erschienen.

 

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