Die Bundestagswahl wird zur Schlüsselwahl für unser Gemeinwesen

Bei der Bundestagswahl wird es vor allem auf eine starke politische Mitte ankommen. Die Corona-Pandemie fordert nicht nur alle in unserem Alltag heraus, sondern ist auch ein Stresstest für die Politik. Überlegtes und entschiedenes Handeln war noch nie so notwendig wie heute. Die Pandemie hat die Demokratie nicht abgeschafft. Aber auch die Parlamente, die Parteien, gesellschaftliche Organisationen und Verbände arbeiten im Krisenmodus. Die Politik erfährt in den vergangenen Monaten in hoher Geschwindigkeit eine gesellschaftliche Entkernung in einer noch nie dagewesenen Weise. Dieses Vakuum muss nun im Wahlkampf von den Volksparteien gefüllt werden. Dafür brauchen wir weder plumpe Sprüche noch Feindbilder, sondern eine ernsthafte Debatte, was wir aus der Pandemie lernen. Corona betrifft jeden, aber eben auch jeden anders. Das Wissen möglichst vieler Menschen ist daher gefordert. Zuhören statt verurteilen, abwägen statt zuspitzen ist notwendig. Wir müssen einen neuen Stil des Miteinanders digital aber vor allem auch vor Ort prägen und pflegen. Die Bundestagswahl 2021 muss trotz Corona zum Bürgerwahlkampf werden.

Viktor Orbán hat diese Woche die Tür zur EVP mit großem Getöse zugeschlagen. Der Fidesz-Chef sieht seine machtpolitischen Wunschträume in der Führung einer populistischen EU-Rechtspartei. Auf Sachfragen kommt es ihm dabei nicht an. Denn die EVP ist Garant für eine gut ausgestatte Regionalpolitik zugunsten der schwächeren Regionen, für eine klare Migrationsbegrenzung, für eine funktionierenden europäischen Grenzschutz oder für die Versöhnung und das Zusammenwachsen von Ost und West. Und wir garantieren seit Jahrzehnten: Familienpolitik bleibt eine rein nationale Kompetenz. Die christdemokratischen europäischen Gründerväter Alcide de Gasperi oder auch Konrad Adenauer waren in familienpolitischen Fragen konservativ, aber sie waren überzeugt vom demokratischen Verfassungsstaat, der liberalen Demokratie und vom gesellschaftlichen Zusammenhalt. Für sie war Europa weder Selbstbedienungsladen noch Showbühne für eigene Ambitionen, sondern sie waren tief überzeugt von der europäischen Leitkultur. Dieser Gemeinschaftsgeist ermöglicht nicht nur ein starkes Europa, sondern auch ein Solidaritätsverständnis, von dem Ungarn – der pro Kopf größte Nettoempfänger der EU –stark profitiert. Diesem christdemokratischen Erbe fühlen wir uns als EVP verpflichtet. Mit diesem Erbe bricht Orbán und wirft sich nationalistischen Parteien an den Hals, die – als sie Farbe bekennen mussten – den Beitritt Ungarns in die EU mit üblen Vorurteilen erbittert bekämpft haben.

Orbáns neue Freunde von AfD, Wilders und Le Pen träumen von einem Europa erster und zweiter Klasse. Sie brauchen Gegner, wollen die Spaltung zwischen links und rechts und schüren Hass. Rechtspopulisten wollen die Rechte von der politischen Mitte abtrennen und verwechseln Radau mit Gestaltungskraft. Wir Christdemokraten verfechten gemeinsame europäisch-abendländische Werte und lehnen nationalistische Egoismen ab. Wir wollen Europas Gesellschaften zusammenhalten. Am Ende sind die Rechtspopulisten willige Türöffner für ein linkes Europa, um ein wirkungsvolleres Feindbild zu haben. Die beste Medizin gegen diese ruinöse gesellschaftliche Spaltung sind starke christdemokratische Volksparteien der politischen Mitte.

Was hat dies alles mit Deutschland zu tun? Bei der Bundestagswahl wird es vor allem auf eine starke politische Mitte ankommen. Die Corona-Pandemie fordert nicht nur alle in unserem Alltag heraus, sondern ist auch ein Stresstest für die Politik. Überlegtes und entschiedenes Handeln war noch nie so notwendig wie heute. Und die Regierenden machen ihren Job alles in allem verantwortungsvoll und gut. Eine Studie der französischen Universität Science Po hat dennoch gezeigt: Aufgrund der Pandemie befürchten die Menschen europaweit, die Entscheidungshoheit über die Zukunft des Landes zu verlieren.

Die Pandemie hat die Demokratie nicht abgeschafft. Aber auch die Parlamente, die Parteien, gesellschaftliche Organisationen und Verbände arbeiten im Krisenmodus. Die Politik erfährt in den vergangenen Monaten in hoher Geschwindigkeit eine gesellschaftliche Entkernung in einer noch nie dagewesenen Weise. Dieses Vakuum muss nun im Wahlkampf von den Volksparteien gefüllt werden. Dafür brauchen wir weder plumpe Sprüche noch Feindbilder, sondern eine ernsthafte Debatte, was wir aus der Pandemie lernen. Corona betrifft jeden, aber eben auch jeden anders. Das Wissen möglichst vieler Menschen ist daher gefordert. Zuhören statt verurteilen, abwägen statt zuspitzen ist notwendig. Wir müssen einen neuen Stil des Miteinanders digital aber vor allem auch vor Ort prägen und pflegen. Die Bundestagswahl 2021 muss trotz Corona zum Bürgerwahlkampf werden.

Die üblichen programmatischen Blaupausen werden dafür nicht reichen. Die Bundestagswahl wird eine Schlüsselwahl, für die wir den neuen gesellschaftlichen Zukunftsentwurf nach der schlimmsten Pandemie seit hundert Jahren begründen müssen. Dieser Wahlkampf muss, so widersprüchlich es klingen mag, die Gesellschaft einen und darf nicht zulassen, dass unser gesellschaftlicher Zusammenhalt durch Rechts- oder Linkspopulisten weiter Schaden nimmt. CDU und CSU sollten dafür einen neuen Gesellschaftsvertrag anbieten, der auf vier Säulen basiert:

Erstens hat die Pandemie gezeigt, dass es ohne staatliche Handlungs- und Leistungsfähigkeit nicht geht. Die Aufgaben des Staates, seine Schutzfunktion müssen wir neu in den Vordergrund stellen. Allzu oft wurden staatlichen Organe und die Bürgerschaft in einen Gegensatz gebracht. Aber nur miteinander geht es. Öffentliche Leistungsträger, wie Pfleger, Ärztinnen oder Polizisten, bedürfen nicht nur wesentlich höherer Wertschätzung, sondern müssen mit ausreichend finanziellen und rechtlichen Mittel ausgestattet sind, um ihre wichtigen öffentlichen Aufgaben bestmöglich ausfüllen zu können. Die Pandemie hat den geltenden Datenschutz genauso in Frage gestellt wie auch überzogene Privatisierungen. Gleichzeitig ist die staatliche Leistungsfähigkeit aber stark ausbaufähig, indem wir unsere Verwaltung für das digitale Zeitalter modernisieren, bürgerfreundlicher gestalten und effizienter organisieren. Wir müssen Staat und Bürger wieder besser zusammenbringen.

Zweitens braucht es ein neues Verständnis von Leistung und Fairness. Ohne das millionenfache Engagement von Bürgerinnen und Bürger könnte die Krise niemals überwunden werden. Aber zur Wahrheit gehört: Diese Leistung wird oftmals nicht von den höchsten Gehaltsgruppen erbracht. Lasst uns die Leistungsträger dieser Gesellschaft vom Supermarktverkäufer bis hin zur Forscherin vereinen. Dafür ist eine Steuer- und Sozialbeitragsreform notwendig, die das Leistungsprinzip und nicht allein den Spitzensteuersatz im Blick hat und gleichzeitig Familien besser fördert. Der Mittelstand ist und bleibt das Rückgrat unserer Gesellschaft.

Drittens waren die „eigenen vier Wände“ noch nie so wichtig wie heute. Es ist absurd, dass manche Grünen das Eigenheim verbieten wollen. Vielmehr sollten wir die Chance, die uns das Home Office bieten, als Chance für den ländlichen Raum begreifen, in dem die Menschen familiennah arbeiten können. Wir brauchen eine neue Eigenheiminitiative, kein Eigenheimverbot! Und soziale Formen von Wohneigentum, wie Genossenschaften, müssen ausgebaut werden. Jede Familie soll ihre Chance auf ein Eigenheim erhalten. Hier müssen wir unterschiedliche Wohnkonzepte zusammenbringen und kreative Lösungen entwickeln.

Viertens Bildung: Unser Bildungssystem muss endlich wieder alle Kinder in den Blick nehmen und neu gedacht werden. Dabei geht es vor allem um eine stärkere Persönlichkeitsbildung und das Abzielen auf unterschiedliche Begabungen. Dafür brauchen wir keine Rezepte aus den 1970er-Jahren wie die Gemeinschaftsschulen, sondern mehr kreative Ideen und weniger Vorschriften. Wir müssen digitale Techniken so nutzen, dass jedes Schulkind – unabhängig vom Einkommen oder Bildungshintergrund seiner Eltern – die beste Bildung erhält. Viele Schülerinnen und Schüler machen durch die Pandemie ganz automatisch einen Sprung im Umgang mit digitalen Techniken. Wir müssen diese Kompetenz nur genauso regulär in die Klassenzimmer bringen, damit die Begabungen aller besser entfaltet und gerade auch sozial benachteiligte Schulkinder besser gefördert werden. Dafür sind Investitionen in Ideen und Infrastruktur notwendig. Gleichzeitig müssen wir das Innovationshemmnis Nummer eins im Bildungsbereich grundlegend angehen: die Kultusbürokratie. Hier brauchen wir einen klaren Reformschub, indem wir Ministerien, Schüler, Eltern und Lehrer besser zusammenbringen. Leistungsgerechtigkeit und Fairness muss auch in unserem Schulalltag neu entfaltet werden.

2021 ist das Jahr für einen politischen Aufbruch und einen starken gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Pandemie ist für alle eine enormer Stresstest und wird unsere Gesellschaften verändern. Schöpfen wir daraus Energie für einen neuen Gesellschaftsvertrag. Das ist die zentrale Aufgabe für die Volksparteien CDU und CSU.

Manfred Weber (48) ist Vorsitzender der christdemokratischen EVP-Fraktion im Europäischen Parlament und Stellvertretender Parteivorsitzender der CSU.

 

Dieser Gastbeitrag ist zunächst am 07. März 2021 in der deutschen Sonntagszeitung „Welt am Sonntag“ erschienen.

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