Europa ist eine enorme Erfolgsgeschichte wie auch ein unvergleichbarer Sehnsuchtsort. Kein anderer Kontinent verbindet eine freiheitlich-demokratische Lebensweise mit sozialen Rechten und wirtschaftlichen Aufstiegschancen, wie Europa dies tut. Nicht nur wurden Todfeinde zu friedlichen Nachbarn und Diktaturen zu Demokratien, sondern Europa schuf auch einen bis dahin nie da gewesenen Wohlstand. Millionen Tote auf Soldatenfriedhöfen und in Massengräbern, aber auch rund sechzig Millionen Europäer, die im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Europa den Rücken gekehrt haben, um in anderen Teilen der Welt ihr Glück zu suchen, zeigen: Das heutige Europa ist kein Naturzustand, sondern das Ergebnis harter Arbeit und eines festen politischen Willens, zusammenzustehen.
Europa war nie ein reines Elitenprojekt. Keine Hinterzimmerdiplomatie, sondern die Menschen auf der Strasse stiessen die friedliche Revolution vor dreissig Jahren an. Keine Finanzhaie, sondern die Arbeiter, Ingenieure und Unternehmer schufen Europas Wohlstand. Das heutige Europa ist der Ertrag seiner Bürgerinnen und Bürger. Ihrem Einsatz, ihrem Können und ihrem Gemeinschaftsgeist ist die Erfolgsgeschichte Europas zu verdanken.
Unser Lebensmodell, unser «European way of life», steht in den kommenden Jahren auf der Kippe. Weder private Internetgiganten noch Staatswirtschaften und Autokratien wie China und Russland werden die richtige Balance zwischen Freiheit und Sicherheit, Wohlstand und Fairness, Toleranz und Ordnung für uns sichern. Das müssen wir Europäer schon selber leisten. Diese Jahrhundertaufgabe kann aber nicht als fernes Elitenprojekt funktionieren, sondern die Bürger müssen wissen, dass sie ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen müssen.
Die Bewahrung unseres europäischen Lebensstils wird nur gelingen, wenn sich Europa zu einer wirklichen parlamentarischen, handlungsfähigen Demokratie weiterentwickelt. Europas Bürgerinnen und Bürger müssen das entscheidende Wort haben, wer ihren Kontinent regiert und welche Zukunftsentscheidungen in ihrem Namen umgesetzt werden.
Die parlamentarische Demokratie entstand nicht nur in Europa, sondern sie ist heute nahezu überall auf unserem Kontinent gelebte Regierungspraxis: warum nicht auch endlich auf europäischer Ebene? Bis 2024 sollten wir die Grundsätze der parlamentarischen Demokratie im EU-Entscheidungsprozess fest verankert haben, beispielsweise, indem der Spitzenkandidaten-Prozess verbindlich festgeschrieben wird, damit die Wählerinnen und Wähler bestimmen, wer die Europäische Kommission anführt und mit welchem Programm.
Dieser demokratische Legitimationsschub würde die Grundlagen schaffen, um Europas derzeitige Sprachlosigkeiten zu beenden. Das fängt bei der Aussenpolitik an, bei der das Einstimmigkeitsprinzip abgeschafft werden muss, da es von Tsipras bis Orban allzu oft dazu benutzt wurde, Europa in der Welt den Mund zu verbieten.
Auch muss Europa mit mehr Elan sprechen, um eine fairere Weltwirtschaftsordnung mit ambitionierten Handelsverträgen zu schaffen, das Pariser Klimaabkommen weltweit verbindlich fortzuschreiben und in Europa eine wirkliche Sicherheitsunion aufzubauen, die Terroristen die Stirn bietet und sich neuen digitalen Gefahren wirkungsvoll entgegenstellt.
Gleichzeitig müssen wir Europäer auch wieder mehr miteinander sprechen. Die in den vergangenen Jahren eingetretene partielle Sprachlosigkeit zwischen Süd und Nord, aber vor allem auch zwischen West und Ost, ist langfristig Gift für den europäischen Zusammenhalt. Nur gemeinsame, europaweite Debatten über die Zukunft unseres Kontinents werden das gegenseitige Misstrauen überwinden und das allzu häufige politische Schwarzpeterspiel durch einen Wettstreit um die besten Ideen ersetzen. Dafür brauchen wir europaweite Wahlkämpfe, bei denen über die wirklich entscheidenden Fragen gesprochen, gerungen und letztlich entschieden wird.
Durchsetzungsstarke Politik verliert sich weder in Sonntagsreden, noch heischt sie kurzfristig Beifall, sondern sie stellt sich mit klaren alternativen Politikangeboten den Wählerinnen und Wählern. Nur wenn die Menschen wirklich das Sagen haben, wird den Populisten der Boden unter den Füssen weggezogen.
Lasst die Bürgerinnen und Bürger einfach selbst entscheiden, wie sie mit einem starken demokratischen Fundament ihr Haus von Europa bauen wollen. Mein Traum von Europa ist ein demokratisches Europa.
Manfred Weber ist deutscher Politiker, Vorsitzender der Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christlichdemokraten) im Europäischen Parlament und stellvertretender Parteivorsitzender der CSU. Der Beitrag entstand im Rahmen des NZZ-Podiums Brüssel vom 1. 10. 2019 zum Thema «Der europäische Traum».
Dieser Gastbeitrag erschien zuerst am 06. November 2019 in der Neuen Züricher Zeitung.