Großbritannien muss sich entscheiden

Über Jahrhunderte richteten die britischen Regierungen skeptische Blicke auf unseren meist unruhigen, kriegerischen Kontinent. Ihre Besorgnis war aber keine Ablehnung, sondern fußte auf Verantwortung. Disraeli, Lloyd George oder auch Churchill zweifelten keine Sekunde daran, dass europäische Anliegen gerade auch britische sind.
Manfred Weber
Manfred Weber

Für die britischen Premiers lag die politische Stabilität des Kontinents mit seinem Gleichgewicht der Kräfte im ureigenen Interesse. Dafür waren sie bereit, mehr als manch anderes europäische Land Verantwortung für und in Europa zu übernehmen, sicherte doch gerade Großbritanniens kontinentaler Einfluss die britische Bedeutung in der Welt.

Die derzeitige Regierungslinie des „raus, koste es, was es wolle“ stellt einen klaren Bruch mit der britischen Geschichte dar. Zwar bleiben auch nach einem möglichen Austritt Großbritanniens aus der EU die britischen Inseln geografisch und kulturell Teil Europas, aber der politische Einfluss des Vereinigten Königreichs wird massiv schwinden. Boris Johnson kann bis heute nicht klar begründen, wie er Großbritanniens Verhältnis zu Europa gestalten will.

Der amtierende Premierminister verkürzt diese Schicksalsfrage zu einem wahltaktischen Moment: Wichtige Brexit-Pläne werden nicht mehr im Parlament, sondern auf Parteiversammlungen diskutiert, Minister zu Befehlsempfängern degradiert, hochdekorierte Parteigranden vom Wahlzettel gestrichen und Andersdenkende mit Schimpfkanonaden überzogen. Boris Johnson ersetzt Weitsicht durch Aktionismus. Davon darf sich Europa weder beeindrucken noch gar anstecken lassen.

Beim Brexit steht mehr auf dem Spiel als die Zukunft der britischen Wirtschaft. Das Ausscheiden Großbritanniens wird die Europäische Union zweifelsohne verändern. Großbritanniens historische Stellung in Europa, seine wirtschaftliche wie militärische Stärke, seinen kulturellen wie wissenschaftlichen Reichtum werden die restlichen 27 Mitgliedstaaten nicht einfach ersetzen können.

Die Trennung wird schmerzlich sein. Aber dieser Verlust sollte uns nicht dazu verleiten, den Gemeinschaftssinn der übrigen Mitglieder zu untergraben. Eine Trennung zwischen der EU und Großbritannien kann nur bedingt politisch rational abgefedert werden. In einem Punkt haben die Brexiteers recht: Einen wirklich guten Deal kann es nicht geben. Dies stimmt aber allein, weil Großbritanniens Abkehr von Europa schlicht ein historisch verantwortungsloser Fehler ist.

Was Napoleon sich einst für seine britischen Feinde erhofft hatte, erfüllt Johnson jetzt ganz von selbst: Großbritannien verabschiedet sich von seiner herausragenden Rolle in Europa. Auch 1211 Tage nach dem Referendum macht der Brexit politisch, wirtschaftlich, sicherheitspolitisch und auch historisch keinen Sinn. Die Brexit-Kampagne basierte weitgehend auf Vorurteilen und war mit zahlreichen Falschinformationen gespeist. Ein bleibender Erfolg des Populismus würde jetzt allen schaden.

Als Rechtsgemeinschaft fällt es der Europäischen Union äußerst schwer sich auszumalen, wie Großbritannien ohne Austrittsvertrag ausscheiden soll. Die gemeinsamen Regeln der EU sind nämlich nicht in erster Linie bürokratische Vorschriften, sondern vielmehr die Klammer eines gemeinsamen Zusammenlebens, die Grundlage, füreinander einzustehen, und der Rahmen, gemeinsam zu wirtschaften.

Gemeinsame Regeln waren der Ausgangspunkt für die längste Friedens- und höchste Wohlstandsepoche in der Geschichte Europas. Daher ist ein No Deal in seiner Regellosigkeit auch Gift für eine gute Zukunft in Europa, und niemanden kann es im übrigen Europa zufriedenstellen, wenn es Großbritannien schlechter als dem Rest geht. Ein solches Schützengraben-Kriegs-Denken haben wir Europäer schon seit Jahrzehnten überwunden.

Jeder in der EU will deshalb das negative Szenario eines No Deal möglichst verhindern. Wir müssen aber auch akzeptieren: Es liegt nicht allein in unseren Händen. Die Briten müssen selbst entscheiden, welches Verhältnis zur EU sie in Zukunft eingehen möchten. Eine solche Entscheidung muss aber auch die Zukunft der EU im Blick haben, ansonsten dürfen wir uns nie darauf einlassen. Auch ein Austrittsvertrag darf die Regeln der EU nicht auf den Kopf stellen.

Der Austrittsvertrag entscheidet eben nicht nur über die Wahlchancen bei den kommenden britischen Unterhauswahlen, sondern – wesentlich entscheidender – er definiert auch das künftige Selbstverständnis der EU. Als Rechtsgemeinschaft ist die EU es gewohnt, Kompromisse zu schließen, Zukunftsvereinbarungen zu treffen und lösungsorientiert vorzugehen. Politisches Pokerspielen lag ihr schon immer fern.

Die Existenz der EU gründet sich aber nicht auf ihrem Politikstil, sondern basiert auf ihren Werten. Die Grundüberzeugungen der EU sind daher nicht verhandelbar. Ohne ihr Wertebewusstsein, für Freiheit und Solidarität einzustehen, wie auch jedem EU-Bürger die gleichen Rechte einzuräumen, würde es langfristig keine EU mehr geben.

Die vier Grundfreiheiten kompromisslos zu verteidigen ist daher weder Starrköpfigkeit noch Abstrafungskalkül geschuldet, sondern entspringt schlicht dem Selbsterhaltungswillen der EU. Die EU kann weder die Aufsplitterung des Binnenmarktes geografisch oder nach Branchen akzeptieren, noch seine Bürger in eine erste und eine zweite Klasse einteilen.

Nicht „Singapur“ oder jeder andere Ellbogenkapitalismus ist unser Wirtschaftsmodell, sondern die soziale Marktwirtschaft mit klaren ordnungspolitischen Leitplanken, die für jeden gleichermaßen gelten. Wer diesen Grundsatz nicht akzeptiert, kann am Binnenmarkt schlicht nicht teilnehmen, da ansonsten die europäische Wertegemeinschaft ihre eigene Zukunft beenden würde.

Gleiches gilt im Hinblick auf die Solidarität innerhalb der EU. Die EU wird und kann nicht zulasten einzelner Mitgliedstaaten Kompromisse mit Dritten schließen. Das gilt gegenüber Russland im Hinblick auf die baltischen Staaten und Polen, gegenüber der Türkei im Hinblick auf Bulgarien und Griechenland und eben auch gegenüber dem neuen Drittstaat Großbritannien im Hinblick auf Irland. Die EU kann sich zu einer harten inneririschen Grenzen niemals bereit erklären.

Und letztlich ist eine Werte- wie auch Rechtsgemeinschaft eine Gemeinschaft. Für Mitglieder, die sich unseren Grundsätzen unmissverständlich verpflichten, müssen besondere Rechte und damit auch Vorteile gelten. Ein Mitglied muss immer besser gestellt sein als ein Nicht-Mitglied. Die Pflichten und Rechte der EU sind ein Paket und kein Warenkorb. Man kann sie sich nicht individuell einfach herauspicken, denn sie bedingen einander.

Ein Rosinenpicken kann und darf es auch für Großbritannien nicht geben. Einem Austrittsvertrag, der die Rechts- und Wertegemeinschaft der EU mit Füßen tritt, wird das Europäische Parlament nie zustimmen. Die Grundsätze der EU sind unverhandelbar. Es obliegt nun Großbritannien, zu einer verantwortungsbewussten Politik gegenüber Europa zurückzukehren. Die Hand der EU bleibt ausgestreckt, aber wir erwarten, dass die Briten unsere Prinzipien respektieren – sei es als Teil, als enger Freund oder auch als bloßer Partner der EU.

Dieser Namensartikel von Manfred Weber ist am 15. Oktober 2019 in der Wochenzeitung „Die WELT“ erschienen.

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