Zu lange haben wir nun auf die Briten gewartet. Die lange Hängepartie der Briten, wie sie es mit Europa halten wollen, begann ja schon Jahre vor dem Brexit-Referendum und verzögerte eine gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik, eine vernünftige Budgetgestaltung oder auch eine gemeinsame Terrorabwehr. Nun hat die wiedergewählte britische Regierung ihre Wartesaalpolitik endlich beendet: Die Briten wollen kein Teil, aber ein enger Handelspartner der EU sein. Boris Johnson kennt die Voraussetzungen dafür: Großbritannien kann kein zweites Singapur vor unserer Haustür werden, das unser europäisches Sozialmodell untergräbt. Die Briten müssen die europäischen Regeln akzeptieren, denn nur auf dieser Grundlage können wir faire Handelsbeziehungen zu Großbritannien gestalten.
Lasst uns den Brexit aber auch als Chance für Europa begreifen. Europa muss endlich erwachsen werden. Die vergangenen Europawahlen haben ja gezeigt: Der Brexit hat den Zusammenhalt der übrigen 27 Mitgliedstaaten gestärkt. Europas Bürgerinnen und Bürger erwarten eine handlungsfähige Europäische Union. Wir sollten nun zügig eine EU-Eingreiftruppe als Vorstufe zur Europäischen Armee schaffen, das Mehrheitsprinzip in der Außenpolitik endlich akzeptieren und beim kommenden Budget die leidige Diskussion über Netto- und Bruttozahlern beenden. Von einem wehrhaften Europa, das in der Welt ein gewichtiges Wort mitredet und seine Außengrenzen wirksam schützen kann, profitiert jeder in Europa – egal wo er wohnt. Neiddebatten schaden dabei nur. Vielmehr sollten wir der Welt zeigen: Europa steht zu seinen Werten und wird sie in einer immer turbulenteren und aggressiveren Welt schützen. Der Brexit hat Europa die Chance gegeben, seinen Bürgern zu zeigen, was die Mitgliedschaft in der EU wert ist. Die Briten haben Europa sozusagen einen wichtigen Dienst erwiesen. Nur ganz radikale politische Kräfte stellen heute die Mitgliedschaft der EU in Frage. Selbst Populisten sprechen heute von einer Erneuerung der EU, aber nicht mehr vom Austritt. Der Öxit und Dexit sind aus der politischen Debatte verschwunden. Keiner will dem britischen Weg folgen.
Der Brexit ist aber gleichzeitig eine hervorragende Möglichkeit, die Hand zu seinen Nachbarn auszustrecken. Europa muss ein Projekt des Miteinanders und des Vernetzens bleiben. Auch Länder in unserer Nachbarschaft, die nicht Mitglied der EU werden wollen oder können, brauchen eine enge Anbindung. Der erste Testfall dafür werden die neuen Abkommen mit Großbritannien sein. Zwangsläufig müssen wir klar zwischen Mitgliedschaft und Partnerschaft unterscheiden. Mitglieder haben mehr Vorteile als Außenstehende. Die Abkommen werden aber auch gemeinsame wirtschafts-, sicherheits- und geopolitische Interessen und Aufgaben identifizieren und neue Formen der Zusammenarbeit dafür ausarbeiten müssen. Mit der Schweiz, Norwegen und Island haben wir schon spezielle Beziehungen entwickelt. Die Ausgestaltung der Partnerschaft mit Großbritannien kann eine hervorragende Blaupause werden, um unsere Nachbarschaft eng an Europa zu binden. Mit viel Kreativität werden wir abermals beweisen, dass Partnerschaft die Grundlage Europas ist.
Dieser Gastbeitrag ist zunächst am 13. Dezember 2019 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen.