Warum wir eine europäische Armee brauchen

Donald Trump sieht die EU als ökonomisches Protektorat, und Putin will eine eurasische Union: Nach Jahrzehnten des Friedens muss Europa seine militärischen Kräfte bündeln – und Artikel 42.7 des Lissabon-Vertrags mit Leben erfüllen. Europa braucht eine europäische Armee.
Warum wir eine europäische Armee brauchen (Foto: Tobias Koch)
Warum wir eine europäische Armee brauchen (Foto: Tobias Koch)

Geschichte klopft an unsere Tür. Für uns Europäer ist der Schock wuchtiger, wir haben uns so schön eingerichtet in einer Art „globalen Schweiz“. Und jetzt stehen wir plötzlich allein im kalten Wind. US-Präsident Donald Trump sieht die EU als ökonomisches Protektorat, und Putin will eine eurasische Union. Politik ist ernst, zweifellos. Im Mittelpunkt steht die Verteidigung, und die EU hat in den letzten Wochen Beschlüsse gefasst, die vor wenigen Jahren undenkbar, ja geradezu tabu waren. Wir rüsten massiv auf. Den Mitgliedstaaten werden Spielräume zur Finanzierung des Militärs gegeben, und wir etablieren erstmals Regeln zur gemeinsamen Beschaffung. Und sogar die Briten wollen unbedingt mit dabei sein, das hat schon eine gewisse Ironie.

Ja, es gibt Dynamik. Aber seien wir ehrlich, diese Maßnahmen sind bisher nur das Heilen der Fehler vergangener Jahre und Jahrzehnte. Und wir denken oftmals nur national und technisch, es sind Finanzexperten und Generäle, die das Sagen haben, nicht die Politik.

Wir müssen die heutige Phase endlich als historisch begreifen. Schauen wir auf die Wahlergebnisse der letzten Wochen in Rumänien, Portugal, Deutschland und am Sonntag in Polen: Nationalismus, Populismus, Autoritarismus gegen die europäische Idee. In Großbritannien findet man kein Konzept gegen den Rechtspopulisten Nigel Farage. Und was passiert, wenn im Jahr 2027 bei den französischen Präsidentschaftswahlen ein nationalistischer Kandidat gewinnen sollte? Ein Oberbefehlshaber, der die Beistandsklausel für die baltischen Staaten oder Polen relativiert? Und die Aussicht auf eine starke Bundeswehr erzeugt angesichts von AfD-Umfragewerten um die 25 Prozent nicht nur im Ausland ein ungutes Gefühl.

Starke, wehrhafte europäische Nationen sind die Grundlage eines starken Europas. Aber Helmut Kohl und François Mitterrand wollten mit dem Schaffen eines gemeinsamen Binnenmarktes und einer gemeinsamen Währung nicht nur technisch unsere Wirtschaft stärken. Sie hatten ein politisches Projekt, sie wollten die europäische Einheit so gestalten, dass sie nicht rückabwickelbar ist. Beim Euro und beim Binnenmarkt ist das gelungen, genau das müssen wir jetzt auch bei der Verteidigung schaffen.

Der europäische Mehrwert liegt auf der Hand. Ein erster Schritt ist ein gemeinsamer Raketenschutzschirm an der Ostgrenze, der unter einem europäischen Kommando steht. Bei Defensivwaffen stellt sich auch nicht die Frage, welche Nation den „roten Knopf“ hat – bei Beschuss wird abgewehrt. Und es ist eben nicht nur Aufgabe Finnlands und Polens, wir müssen es gemeinsam finanzieren. Gleiches gilt für eine Cyberabwehr-Brigade der EU oder für Überwachungssatelliten im Orbit. Es kann doch nicht sein, dass wir im Ernstfall auf amerikanische Daten angewiesen sind. Diese europäischen Flagship-Projekte müssen jetzt im EU-Haushalt dauerhaft angelegt und mit Einsatzkräften mit der EU-Fahne auf der Uniform aufgebaut werden. Gemeinsam würden wir viel Steuergeld sparen. Die technologische Entwicklung fände in der EU statt, Hightech-Arbeitsplätze würden gesichert.

Und wir müssen den Blick über unsere Grenzen hinaus werfen. Viele EU-Staaten, auch Deutschland, haben ihre Truppen aus der Sahel-Zone zurückgezogen. Wir überlassen den Wagner-Truppen und den Islamisten den Platz – mit allen negativen Folgen für die regionale Stabilität und für Migrationsströme. Zudem hat der amerikanische Verteidigungsminister schlicht recht, wenn er den Kampf gegen die Huthi-Rebellen als europäische Aufgabe definiert. Nur vier Prozent des US-Handels laufen über das Rote Meer, aber 40 Prozent des EU-Handels. Wir brauchen europäische Kommandostrukturen, die unsere Handelswege freihalten. Und auch bei der Sicherung eines Friedens in der Ukraine dürfen wir unseren europäischen Willen nicht in die Hand von 27 nationalen Wahlen legen – es muss ein europäischer Verband handeln.

Zudem spüren die Nationalstaaten ihre finanziellen und technologischen Grenzen. Flugzeugträger oder Atomwaffen – entweder wir machen es gemeinsam, oder wir nehmen uns mittelfristig raus. Und zudem könnte eine echte europäische Verteidigung die neutralen EU-Staaten einbinden. Wir müssen den Artikel 42.7 des Lissabon-Vertrags endlich mit Leben erfüllen. Dieser verpflichtet uns alle, einem EU-Mitgliedstaat, der sich einem bewaffneten Angriff ausgesetzt sieht, mit allen in unserer Macht stehenden Mitteln zu helfen und zu unterstützen.

Die Formulierung ist klarer als Artikel 5 des Nato-Vertrags, wir müssen das jetzt mit Leben erfüllen. Und ja, wir stehen zur Nato. Aber wir wissen, dass die „alte“ Nato nicht mehr zurückkommen wird. Zu lange haben nationale Politiker eine Verzahnung der europäischen Verteidigung abqualifiziert mit dem Hinweis, „man habe ja die Nato“. Das Ergebnis ist ein schwaches, handlungsunfähiges Europa. Dieser Ansatz ist krachend gescheitert, damit muss Schluss sein. Bei Zöllen können wir selbstbewusst auftreten, weil wir ein geeintes Europa haben. Bei der Verteidigung sieht man die Alternative.

Ich bin fest überzeugt, dass wir mittelfristig zu einer gemeinsamen europäischen Armee kommen müssen, basierend auf nationalen Einheiten, mit einer gemeinsamen Beschaffung und vor allem mit gemeinsamen Kommandostrukturen. Dieses Projekt ist wahrlich historisch. Soldaten in den Einsatz zu senden, Armeen zu befehligen – das ist zutiefst mit unserer nationalen Identität verbunden. Heute ist die Essenz, für die es sich zu kämpfen lohnt, der European Way of Life, eine europäische Identität. Unsere „Werte-Bibel“ ist die Grundrechtecharta der EU. Bei der Gründung des Deutschen Reichs hatten viele Deutsche eine historisch tief verwurzelte sächsische, bayerische oder württembergische Identität – und dann wurden wir alle Deutsche. Jetzt müssen wir Europäer werden.

Das geeinte Europa schaffen, die EU unumkehrbar gestalten – das erfordert Führung, eingebettet in historisches Denken. Adenauer, De Gasperi und Schuman sprachen sieben Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs über eine europäische Armee. Nicht die Anzahl der Truppen oder Panzer war ihr Argument, sondern Versöhnung, Vergebung und dauerhafter Frieden. Wir müssen aufhören, die europäische Agenda technisch zu beschreiben, wir müssen Politik wieder historisch denken. Wir brauchen Mut zu historischen Entscheidungen.

Manfred Weber ist Partei- und Fraktionsvorsitzender der EVP. Dem Europäischen Parlament gehört er seit 2004 an. Seit 2015 ist er stellvertretender Parteivorsitzender der CSU.

 

Dieser Gastbeitrag erschien zunächst in WELT am Sonntag. Mehr zum Thema europäische Verteidigung und europäische Armee finden Sie hier.

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